Ist der Job als Anwalt sehr anstrengend?

6 Antworten

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Hallo Sylwhiski,

deine Frage finde ich richtig cool. Sie spricht mich nämlich aus drei Gründen sehr an:

  1. Ich komme aus einer Anwaltsfamilie. Fast alle waren oder sind als Rechtsanwälte berufstätig. Vater, Mutter, Bruder, Neffe, ein Onkel und nun auch noch zwei Cousins... boaaahhh ;-)
  2. Ich selbst bin dann - was für ein Zufall - auch Anwalt geworden.
  3. Aber in einem Punkt war ich anders drauf als die meisten in meiner Familie: Mir war es nämlich auf Dauer zu anstrengend, Anwalt zu sein.

Damit ist deine Frage eigentlich schon beantwortet. Und zwar so:

Ja, der Beruf des Anwalts ist anstrengend!

Wer das Gegenteil behauptet, ist entweder selbst nie als Anwalt berufstätig gewesen. Oder er war zwar Anwalt, aber so schlecht, dass er nur wenige Auftraggeber (Mandanten) hatte. Klar, ohne Mandanten ist nix zu tun. Und mit nur ganz wenigen Mandanten ist nur ganz wenig zu tun. Das ist aber nicht der Normalfall. Normalerweise haben Rechtsanwälte viele Mandanten - und entsprechend viel zu tun. Aber nicht so, wie es in TV-Anwaltsserien zu sehen ist: Da sieht man immer wieder, wie Anwälte tagtäglich spannende Action erleben - vor allem dann, wenn sie im Dienst ihrer Mandanten eigene kriminalistische Recherchen anstellen, fast nie am Schreibtisch sitzen und dafür umso öfter in abenteuerlichen "Außeneinsätzen" auf Achse sind. Auch haben diese Fernsehanwälte die erstaunliche Eigenschaft, im Arbeitsalltag offensichtlich immer nur einen Fall (wenn's hoch kommt: zwei oder drei Fälle) zu bearbeiten. Mehr nicht. Mit der Realität hat das aber absolut nichts zu tun.

  • In der Zeit, als ich Anwalt war, habe ich täglich ca. 30 bis 50 sogenannte "Wiedervorlagen" auf meinem Schreibtisch vorgefunden. "Wiedervorlagen" sind Akten. Jede Akte ist ein laufender Fall. Und jeder laufende Fall (also auch jede zugehörige Akte) wird in regelmäßigen Zeitabständen routinemäßig überprüft - und zusätzlich sofort geprüft, falls etwas Aktuelles passiert (zB wenn eine Nachricht des jeweiligen Mandanten oder ein Post des Prozessgegners eingeht).
  • Zwischendurch: Gespräche mit Mandanten führen. Entweder telefonisch. Sehr oft aber in der Praxis.
  • Und weiter zwischendurch: Gerichtstermine wahrnehmen.
  • Und noch weiter zwischendurch: Schriftsätze formulieren (Klagen, Klageerwiderungen, Berufungs- und Revisionsbegründungen und... und... und).
  • Und noch weiter zwischendurch (aber nur wenn's zeitlich möglich ist): eine Mittagspause einlegen - auch um zu essen.
  • Mein Arbeitsalltag als Anwalt begann in der Regel gegen 8.00 Uhr im Büro und endete dort - nach Unterbrechungen durch die Wahrnehmung von Gerichtsterminen - meist zwischen 20.00 und 21.00 Uhr. Das heißt: 12 bis 13 Arbeitsstunden täglich. Von Montags bis Freitags sind das 60 bis 65 Arbeitsstunden.
  • Aber es kommt noch etwas dazu: das Wochenende. Sonnabends und Sonntags die Füße schön hochlegen und relaxen? Nö, leider nicht! Am Wochenende habe ich fast genau so viel wie von Montags bis Freitags gearbeitet. Nur war ich da nicht in der Praxis und bei Gericht, sondern zu Hause. Dort habe ich "aufgearbeitet", was ich in der Woche (Montag bis Freitag) zeitlich einfach nicht geschafft habe. Fast immer waren das schwierige Fälle mit besonders hohem Arbeitsaufwand - beispielsweise dann, wenn es um ein sogenanntes "Wiederaufnahmeverfahren" in einem eigentlich längst abgeschlossenen Strafprozess ging oder um laufende Verfahren beim Bundesgerichtshof (BGH) oder beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG).
  • Alles in allem ist also die Zahl "60" (Arbeitsstunden pro Woche), die du in deiner Frage nennst, in meinem Fall sogar noch zu niedrig gegriffen. Denn tatsächlich habe ich, während ich Anwalt war, wöchentlich 80 bis 90 Stunden gearbeitet. Und deswegen habe ich ganz oben in meiner Antwort absolut ehrlich geschrieben:

Ja, der Beruf des Anwalts ist anstrengend!

Irgendwann wurde es mir zu viel. Ich habe zwar SEHR viel Geld verdient, hatte aber gar keine Zeit mehr, es auszugeben. Das war aber nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass ich körperlich immer mehr abbaute und eigentlich für nix anderes mehr Zeit hatte als für meinen Anwaltsberuf. Auch nicht für die eigene Familie und meine Hobbys. Als dann noch ein Verwandter von mir (ebenfalls Anwalt) im Alter von 59 Jahren an seinem zweiten Herzinfarkt verstarb, habe ich die Reißleine gezogen. Ich habe mir eine sechsmonatige Auszeit gegönnt und diese Zeit genutzt, über eine alternative Lebensplanung nachzudenken. Das Ergebnis: Ich habe ein Zweitstudium absolviert und bin Lehrer geworden. Das war die beste Entscheidung meines Lebens. Denn ich bin mir ziemlich sicher: Hätte ich auf Dauer so weitergemacht wie in den Jahren als Anwalt - dann wäre auch ich nicht alt geworden.

An dieser Stelle könnte meine Antwort für dich, @Sylwhiski, zu Ende sein. Ist sie allerdings noch nicht. Denn jetzt folgt nach ein großes

Aber:

Was ich als Anwalt erlebt habe, muss sich bei dir - falls du Anwältin wirst - nicht automatisch wiederholen. Es kann bei dir völlig anders und viel besser laufen. Beispielsweise dann, wenn die anwaltliche Tätigkeit bei dir "Beruf und Hobby" gleichzeitig ist und du total darin aufgehst. Dann bleibt der Beruf zwar objektiv anstrengend, aber rein subjektiv nimmst du es als Anstrengung weniger wahr, als es bei mir der Fall war. Für mich war die Zeit als Anwalt "nur" Beruf, aber nicht gleichzeitig mein Hobby. Mein Hobby war (und ist noch immer) das kreative Schreiben, besonders für Jugendliche. Darüber habe ich hier bei GF auch schon mal berichtet - nämlich in meiner Antwort auf diese Frage:

https://www.gutefrage.net/frage/habt-tut-oder-wollt-ihr-ein-buch-schreiben

Dieses Hobby fehlte mir komplett in der Zeit, während ich Anwalt war; und ebenso fehlte der Kontakt zu meiner Zielgruppe, für die ich schreibe: Jugendliche. Das hat sich durch den Berufswechsel (vom Anwalt zum Lehrer) positiv geändert: ein wichtiger Grund, warum ich heute zufriedener als früher bin.

Langer Rede kurzer Sinn: Ich kann dir in meiner heutigen Antwort nur das schreiben, was ich selbst erlebt habe. Aber ich weiß ganz genau: Andere Menschen - und vielleicht auch du - können es völlig anders erleben.

Deshalb lass' dich auf keinen Fall durch das, was ich berichtet habe, abschrecken. Im Gegenteil: Wenn du dir wirklich - nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft - wünschst, Anwältin zu werden: Dann tu' es - und studiere Jura.

Mit dem Jurastudium legst du dich übrigens beruflich noch nicht definitiv fest. Wer Jura studiert, das erste Staatsexamen besteht, anschließend das Referendariat und zweite Staatsexamen absolviert, ist "Volljurist" und kann in dieser Eigenschaft nicht nur Rechtsanwalt werden, sondern beispielsweise auch Richter oder Staatsanwalt. Da steht dir also eine ganze Palette beruflicher Möglichkeiten zur Wahl und kannst später entscheiden, in welchen juristischen Beruf du definitiv einsteigen willst.

Mein Tipp für dich:
  • Ich weiß zwar nicht, wie alt du bist, gehe aber davon aus, dass du noch zur Schule gehst und vielleicht in nächster Zeit ein Betriebspraktikum machen wirst.
  • Solch ein Betriebspraktikum kannst du unter Umständen auch bei einem Rechtsanwalt machen - und genau das würde ich dir empfehlen, weil du dann nämlich Gelegenheit hättest, ein bisschen "Praxisluft" zu schnuppern. Vielleicht stärkt dich das in deinem Wunsch, tatsächlich Anwältin zu werden.

Und was das dazu erforderliche Jurastudium betrifft:

  • Es ist wirklich gut zu schaffen. Und es ist (aus meiner Sicht) ein sehr gutes, weil nämlich sehr spannendes Studium.
  • Es hat absolut nichts zu tun mit stumpfem "Auswendiglernen", wie immer wieder behauptet wird. Richtig ist: Man muss ziemlich viel büffeln. Das ist eigentlich in jedem Studium so. Aber ich wage einfach mal zu behaupten: Das Medizinstudium und das Jurastudium sind die beiden Studiengänge, wo besonders viel gebüffelt werden muss ;-)
  • Das ist aber kein Problem für Leute, die echtes Interesse am Studiengang haben. Wer Spaß an der Sache hat, lernt automatisch gut und besteht prompt auch das Examen.
  • Wie es mir kurz vorm Jura-Examen ergangen ist, kannst du in meiner Antwort auf diese Frage nachlesen:

https://www.gutefrage.net/frage/was-war-die-beste-bemerkung-die-von-deinem-lehrerausbilderdozenten-oder-professor-gehoert-hast

Ok, das war's dann von mir.

Ich weiß nicht, ob ich alles gut und verständlich erklärt habe. Falls nicht und du noch Fragen hast: Schreib' deine Fragen einfach in den Kommentar-Thread rein. Es kann ein oder zwei Tage dauern, bis ich antworte. Aber antworten werde ich auf alle Fälle. Versprochen :-)

Viele Grüße von

hardliner2019

Woher ich das weiß:Berufserfahrung
Sylwhiski 
Fragesteller
 04.02.2021, 10:10

Wow, das ist eine ganzschön lange Antwort..und danke ist verständlich geschrieben und hat mich sehr überzeugt.

Lg

hardliner2019  04.02.2021, 14:33
@Sylwhiski

Hallo Sylwhiski,

vielen Dank für dein Feedback. Ich habe mich sehr darüber gefreut.

Du hast Recht: Meine Antwort ist ganz schön lang. Der Grund dafür ist: Ich beantworte hier bei GF nur ziemlich wenige Fragen. Aber wenn ich welche beantworte, dann finde ich die jeweilige Frage richtig gut und antworte entsprechend ausführlich. So ist es auch bei dir. Du hast eine sehr gute Frage gestellt, und es wäre schön, wenn die Antworten - auch meine Antwort - jetzt oder später auch anderen Leserinnen und Lesern weiterhelfen können.

Ich wünsch' dir weiter viel Spaß & viele positive Erlebnisse bei gutefrage.net. Vielleicht lesen wir uns hier ja irgendwann wieder. Ich würde mich darüber freuen :-)

LG - hardliner2019

klimaschutz01  08.02.2021, 19:25
https://www.gutefrage.net/frage/habt-tut-oder-wollt-ihr-ein-buch-schreiben 

Die Frage wurde vermutlich gelöscht, zumindest gibt es bei mir eine Fehlermeldung...

hardliner2019  08.02.2021, 19:28
@klimaschutz01

Ja, das ist ziemlich kurios.

  • Wenn ich den Link anklicke, bekomme ich angezeigt: "Hoppla, diese Frage gibt es nicht mehr."
  • Aber wenn ich meine (hilfreichste) Antwort zur Frage anklicke, wird die Antwort in voller Länge angeigt.

Macht aber ja nix ;-)

klimaschutz01  08.02.2021, 21:13
@hardliner2019

Ich habe es gerade ausprobiert, bei mir funktioniert es auch, wenn ich auf deine "hilfreichste Antwort" klicke. Gutefrage.net ist manchmal echt seltsam ^^

Wobei ich mich frage, gegen welche Richtlinie die Frage bitteschön verstoßen haben soll...

hardliner2019  08.02.2021, 21:54
@klimaschutz01

Das weiß ich auch nicht. Ich frage einfach mal beim CM nach :-)

Hier gilt es zu unterscheiden:
- Nur Rechtsanwälte mit einem guten, besser einem sehr guten Ersten Staatsexamen haben eine Chance, von einer renommierten Anwaltskanzlei übernommen zu werden. Entsprechend haben diese dort viel zu tun und werden entsprechend bezahlt.
- Rechtsanwälte mit einem lediglich befriedigenden oder gar nur ausreichenden Ersten Staatsexamen werden sich mit bescheideneren Tätigkeiten zufrieden geben müssen, haben entsprechend weniger zu tun und werden schlechter bezahlt.

hardliner2019  06.02.2021, 15:12
Nur Rechtsanwälte mit einem guten, besser einem sehr guten Ersten Staatsexamen haben eine Chance.
  1. Anwaltliche Zulassung mit nur einem Staatsexamen? Das wäre mir neu. (Vgl. eigene Antwort zur Eingangsfrage.)
  2. Das Zweite Staatsexamen (Assessorexamen) ist mindestens genauso wichtig.wie das erste.

na ja, meine Freundin arbeitet als Anwalt und aktuell sagt sie, sie hätten von Morgens bis Abends mit blöden Feuerwehrübungen zu tun, weil ihre Kollegen alles verbocken und Zeug, was schon lange hätte erledigt werden können erst 2 Wochen rumliegen lassen, bis es dann auf den letzten Drücker gemacht werden muss... deshalb arbeitet sie nicht selten bis 10 Uhr Abends...

mein Vater hingegen, der ist auch Anwalt... der hat vor der Corona Zeit immer nur ein Problem gehabt... nämlich seine Termine um seine Golfspiele herum zu platzieren und um seine Golfferien, welche er sicher einmal im Monat machte...

also... was soll ich sagen? ... offenbar gibt's beides ... aber das hat wohl eher nicht mit dem Beruf an sich zu tun

Nein, das sind keine falschen Infos! Als Anwalt hast du keinen 8-Stunden-Tag. Auch geht noch oft das Wochenende drauf.

Diese 60 Stunden pro Woche sind eher amerikanische Verhältnisse. Wenn man hier seine eigene Kanzlei hat, wird man auch mehr arbeiten, als wenn man im Angestelltenverhältnis ist.

Ich kenne zwei Anwälte privat, die arbeiten sich nicht tot....