Faust Schuldfrage?

2 Antworten

Gretchen hat ihr Kind getötet. Das ist zunächst einmal ein schweres Verbrechen, das  zu Recht bestraft wurde. Nach heutigem Rechtsverständnis könnte man auf Schuldunfähigkeit plädieren, da Gretchen offenbar im Zustand der Geistesgestörtheit gehandelt hat. Sie würde aber heute in eine Heilanstalt eingewiesen.

Nach dem Rechtsverständnis des 18. Jahrhunderts hat man ein Tötungsdelikt nicht so differenziert betrachtet, d.h. intensiv und psychologisch nach Schuldmerkmalen gesucht, sondern ist vom Tatbestand ausgegangen: Hier hat jemand getötet, also musste er zum Tode verurteilt werden. Dass die Todesstrafe galt, war allgemeiner Konsens damals, und sie wird auch heute noch von vielen befürwortet.

Im Faustdrama von Goethe gilt Gretchen als von Schuld befreit, denn am Schluss von Faust I heißt es: „Ist gerettet!“ (weil Gretchen sich dem Gericht Gottes übergeben hat: „Dein bin ich Vater! Rette mich!“); am Schluss von Faust II gehört sie zu den 3 Büßerinnen, die von Mater Gloriosa in die „höheren Sphären“ geführt wird, Fausts Seele folgt ihr nach).

Faust könnte an Gretchens Unglück schuld sein. Er selbst sagt ja: „Was muss geschehn, mags gleich geschehn! Mag ihr Geschick auf mich zusammenstürzen und sie mit mir zugrunde gehen!“ (s. „Wald und Höhle“, Faust I); das heißt, er weiß, dass er Gretchen zugrunde richtet, denn Geschlechtsverkehr vor der Ehe bedeutete damals Stigmatisierung, Ausstoßung. Jedoch Faust wird von tiefer Reue erfasst; auch versucht er, Gretchen zu retten. Doch schuldig ist er gegenüber Gretchen  nicht, denn was hat er denn verbrochen? Er hat nach der Natur gehandelt.

Allerdings hat er Valentin, den Bruder von Gretchen, im Duell getötet („Stoß zu!“ Valentin fällt; s. Faust I). Doch Mephisto hat ihm den Degen geführt („Wie ich euch führe!“).  

Jedenfalls gilt Faust im 2. Teil nicht als schuldbeladen. Von den 4 grauen Weibern am Schluss (von Faust II) tritt nur die Sorge in Fausts Palast ein, die anderen drei (Mangel, Not und Schuld) erhalten keinen Eintritt.

Gretchen ist an gar nichts schuld.

Schuld an der Gretchen-Tragödie (Kindsmörderin mit Hinrichtung) tragen die Religion, die patriarchalischen Normen der Gesellschaft mit ihrer natürlichen Ignoranz ohne jegliche humane Kultur: Die Aufklärung "Wage zu denken" - gegen alle möglichen Gewaltherrscher von Gottes Gnaden - begann zu Goethes Zeiten in kleinsten Schritten - Lessings Ringparabel und Kants kategorischer Imperativ schwebten erst noch wie Nebelschleier im Welt- und Menschenbild des Bildungsbürgertums - Schiller und Goethe und andere waren angetan von der Idee der menschlichen Freiheit unter dem Schutz eines Gottes, einer Religion der liebevollen Vergebung ohne Forderungen an den Menschen, nicht mehr unter dem angsteinjagenden Zwang einer Religion...

Gretchen hatte Sex ohne kirchlichen Eheschluss mit Faust aus hingebungsvoller, vertrauensvoller Liebe, wurde schwanger und gebar ein gewiss geliebtes Kind. Aber alle ließen sie im Stich - ihre Mutter und ihr Bruder konnten ihr ja auch nicht mehr helfen, Faust war ihr Mörder gewesen.

Aus Verzweiflung der Verlassenheit mordete sie im Wahn ihr eigenes Kind, ein uneheliches Kind, deshalb von der Kirche vergessen, von der Gesellschaft ausgestoßen verachtet, aber beide Menschen sind vor Gott gerettet, weil die Liebe die Ursache war - Trägt sie am Kindsmord wirklich Schuld, auch wenn sie die Täterin ist, auch wenn die patriarchalisch-christliche Welt sie zum Tode verurteilt hat?!

Ich hoffe, die erkennst erschrocken die Gültigkeit dieser Fragen bis in unsere Zeit? Wage zu denken! Goethes Drama ist "leider" noch lange nicht verstaubte Literatur....