Was versteht Radbruch unter dem Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit?

2 Antworten

Der Text erschien zuerst 1946 und enthält den Versuch eine Kompromisses zwischen Rechtspositivismus (Auffassung, allein das positive [durch Gesetzgebung aufgrund von Vereinbarung/Autorität/Befugnis/gesellschaftlicher Anerkennung/Macht gesetzte] Recht sei für die Verbindlichkeit einer Rechtsnorm ausschlaggebend) und Naturrecht (Auffassung, es gebe eine von Natur aus allgemein gültiges Recht, das dem positiven Recht übergeordnet ist)

Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. In: Süddeutsche Juristenzeitung (1946), S. 105 – 108

Gustav Radbruch gibt drei Werte an, die Bestandteile/Seiten/Prinzipien der Rechtsidee sind, und die das Recht zu verwirklichen hat:

  • Gerechtigkeit
  • Rechtssicherheit
  • Zweckmäßigkeit für das Gemeinwohl

Rechtssicherheit hat nach Auffassung von Radbruch eine Mittelstellung, weil sie einerseits von der Zweckmäßigkeit für das Gemeinwohl, andererseits von der Gerechtigkeit gefordert ist.

Ein Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit kann auftreten, weil das, was in einem Fall vom bestehenden positiven Recht bestimmt wird, und das, was gerecht ist bzw. für gerecht gehalten wird, voneinander abweichen kann. Wenn nach positivem Recht entschieden wird, also danach, was in bestehenden Gesetzen geschrieben ist, kann dann die Rechtsprechung zu einem Ergebnis führen, das ungerecht ist bzw. für ungerecht gehalten wird. Andererseits kann eine Forderung nach Gerechtigkeit die Rechtssicherheit vermindern. Denn Rechtssicherheit bedeutet sicheres Recht, also ein Recht, bei dem auf das Ergebnis zuverlässig vertraut werden kann. Wenn das Ergebnis wechselhaft und unbeständig ist, also das Ergebnis in einem gleichartigen Fall unterschiedlich ist, je nachdem wer als Richter(in) urteilt und gerade welche Überzeugung über Gerechtigkeit hat, ist die Rechtssicherheit vermindert. Auffassungen über das, was in einem Fall gerecht ist, können weit auseinanderliegen. Es gäbe einen sehr großen Spielraum der Auslegung und Anwendung des Rechts.

Zugleich hält Radbruch Rechtssicherheit („Daß das Recht sicher sei, daß es nicht heute und hier so, morgen und dort anders ausgelegt und angewandt werde,“) für eine Forderung der Gerechtigkeit. Dies kann von einer formal definierten Gerechtigkeit mit einem Gleichheitsprinzip (Gleichheit vor dem Recht), Gleiches gleich zu behandeln, her nachvollzogen werden. Denn eine solche Gleichbehandlung wäre von Urteilen, die von Auffassungen über das Gerechte bestimmt, nicht gewährleistet, sondern es wäre mit Ungleichbehandlung in gleichartigen Fällen zu rechnen.

Es kann also ein Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit als Widerstreit „zwischen einem inhaltlich anfechtbaren, aber positiven Gesetz“ (scheinbare Gerechtigkeit) und „einem gerechten, aber nicht in Gesetzesform gegossenen Recht“ (wirkliche Gerechtigkeit) entstehen.

Radbruch hat einen Lösungsvorschlag für den Konflikt: Grundsätzlich hat in der Rechtsprechung das positive Recht auch dann Vorrang, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist. Dieser Vorrang gilt aber nicht uneingeschränkt und ausnahmslos. Wenn das positive Gesetz in einem unerträglichen Maß in Widerspruch zur Gerechtigkeit steht, darf das bestehende Gesetz nicht als verbindlich gelten, sondern hat der Gerechtigkeit zu weichen. Eine scharfe Trennlinie zwischen trotz ungerechten Inhalts geltenden Gesetzen des positiven Rechts und gesetzlichem Unrecht, dem als »unrichtiges Recht« die Befolgung und Geltung verweigert werden muß, hält Radbruch für nicht möglich. Die Trennung ist eine Sache des Ausmaßes. Zumindest bei extremer Ungerechtigkeit ist Unerträglichkeit gegeben.

Eine deutlichere Grenzziehung führt Radbruch zu gesetzlichem Unrecht durch, bei dem Gerechtigkeit nicht einmal als Ziel erstrebt wird. Wenn bei der Setzung des positiven Rechts das Gleichheitsprinzip (ein Kern der Gerechtigkeit) bewußt verleugnet wird, also Gerechtigkeit ganz grundlegend verletzt, fehlt einem solchen Gesetz die Rechtsnatur.

Radbruch hält einen erheblichen Teil der nationalsozialistischen Rechtssetzung für einen solchen Verstoß.

Der Gedanke kann auch auf manche Vorgänge in der DDR angewendet werden (vgl. beispielsweise die Mauerschützenprozesse wegen Schießbefehls und tödlicher Schüsse). Menschenrechte sind Bestandteil von Gerechtigkeit und ein inhaltlicher Maßstab des Rechts. 

Rechtssicherheit ist wichtig.
Normalerweise muss zugunsten geltenden Rechts (Gesetz) entschieden werden, auch wenn dieses nach subjektiven Empfinden ungerecht ist.
Aber:
Wenn der Widerspruch des geltenden Gesetzes zur Gerechtigkeit "ein unerträgliches Maß" erreicht, ist das geltende Gesetz unwirksam/niedriger zu bewerten.
Bsp. Schießbefehl an der DDR Grenze - war geltendes Recht aber Menscheverachtend. Das geltende Gesetz muss dem Recht auf Leben/körperliche Unversehrtheit Menschenwürde weichen.