Man darf als Angeklagter lügen?

14 Antworten

Es gibt im deutschen Strafverfahren einige sogenannte "Prozessmaximen", also Grundsätze, Prinzipien, die teilweise in der Strafprozessordnung genau festgelegt sind, teilweise vom Grundgesetz vorausgesetzt werden und teilweise einfach ungeschriebene Prinzipien sind.

Einer dieser Grundsätze ist das sogenannte Selbstbegünstigungsprinzip, in der Fachsprache wird es auch "nemo-tenetur-Grundsatz" genannt. Dieser Name kommt von dem lateinischen Satz "nemo tenetur se ipsum accusare", was soviel bedeutet wie "niemand muss sich selbst beschuldigen/belasten".

Dieser Grundsatz hat im deutschen Strafverfahren also eine große Bedeutung. Es gibt daher einige im Gesetz geschriebene sowie auch einige ungeschriebene Folgen, die dieser Grundsatz mit sich bringt. Ich zähle einige Beispiele auf:

  • Wenn die Polizei einen anhält, dann ist man nicht verpflichtet, zu "pusten", um zu testen, ob man Alkohol getrunken hat. Denn das Pusten würde für mich ja dazu führen, dass - für den Fall, dass ich Alkohol getrunken habe - ich mich selbst belasten würde. Das muss ich aber nicht. Natürlich ist für die Polizei dann nicht Schluss: Sie kann mich bei ausreichendem Verdacht zwangsweise mitnehmen und nach einem richterlichen Beschluss darf mir ein Arzt dann Blut entnehmen. Das ist deswegen nicht mehr vom Selbstbegünstigungsprinzip gedeckt, weil dafür meine eigene Mitwirkung ja nicht erforderlich ist - es geschieht auch zangsweise, wenn ich mich weigere.
  • Der Angeklagte hat - anders als Zeugen - das Recht zu schweigen. Er muss vor Gericht nichts sagen, und das darf ihm auch nicht negativ ausgelegt werden.
  • Überraschend, aber: Der Ausbruch aus einem Gefängnis oder die Flucht vor der Polizei ist nicht strafbar. Zwar wird ein Ausbrecher in der Regel einige andere Straftaten (Sachbeschädigung, Nötigung, Körperverletzung) begehen, die dann natürlich auch bestraft werden. Aber der Ausbruch an sich ist nicht strafbar wegen des Selbstbegünstigungsprinzips. Vielleicht nimmt man sich dadurch die Chance auf vorzeitige Haftentlassung, doch die Strafe wird nicht erhöht.
  • Schließlich dein Beispiel: Ein Angeklagter darf vor Gericht ungestraft lügen. Anders als das Schweigen darf ihm das dann aber auch negativ ausgelegt werden, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Denn dann hat sich der Angeklagte selbst dazu entschieden, nicht von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen. Die Straflosigkeit des Lügens eines Angeklagten geht soweit, wie er nicht andere durch seine Aussage wahrheitswidrig belastet. A darf also die Tat, die er tatsächlich begangen hat, so lange ungestraft leugnen und irgendwelche Alibis erfinden, solange er nicht B, der unschuldig ist, die Tat anhängt oder Aussagen macht, die dazu führen, dass gegen B ermittelt wird.

Ich hoffe, dass du jetzt nicht mehr so komisch findest, dass ein Angeklagter lügen darf. Eine ganz praktische Auswirkung wäre da übrigens noch zu machen:

Stell dir vor, ein Unschuldiger würde angeklagt und das Gericht ist der Auffassung, dass er schuldig ist und verurteilt den Angeklagten. Der hat natürlich die ganze Zeit seine Unschuld beteuert. Wäre es jetzt sinnvoll, jeden, der vor Gericht seine Unschuld beteuert, noch extra dafür zu bestrafen, dass er (angeblich) gelogen hat, wenn er auch wegen der Tat an sich schon bestraft wird? Ich denke nicht.

Der Grundgedanke ist, wie gesagt: Man kann einem Beschuldigten / Angeklagten nicht zumuten, selbst an seiner eigenen Verurteilung mitzuarbeiten. Das widerspricht dem gesunden Menschenverstand.

JA und JA.

Das Prinzip ist so alt, das kannte man bereits im römischen Recht:

Nemo tenetur se ipsum accusare

"Niemand ist verpflichtet, sich selbst anzuklagen"

Nach deutschem Recht ergibt sich das aus GG Art. 2 Abs. 1 (Allgemeines Persönlichkeitsrecht) iVm Art. 1 Abs. 1 GG (Schutz der Menschenwürde), woraus sich ein Schutzrecht des Betroffenen vor einem möglichen Zwang, sich selbst zu belasten, ergibt.

Zusätzlich findet sich das auch explizit im (von Deutschland unterzeichneten und ratifizierten) "Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte", kurz: IPbpR, Art. 14, Abs. 3, Punkt g:

(3) Jeder wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte hat in gleicher Weise im Verfahren Anspruch auf folgende Mindestgarantien: [...]

g) er darf nicht gezwungen werden, gegen sich selbst als Zeuge auszusagen oder sich schuldig zu bekennen.

Auch gemäß StPO ist der Beschuldigte oder Angeklagte nicht verpflichtet, sich (wahrheitsgemäß) zu äußern, s. StPO §136 Abs. 1 S. 2:

Er ist darauf hinzuweisen, daß es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen.

und StPO §243 Abs. 5 S. 1

(5) Sodann wird der Angeklagte darauf hingewiesen, daß es ihm freistehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen.

Die Straffreiheit einer falschen Aussage ergibt sich aus StGB §153:

Wer vor Gericht oder vor einer anderen zur eidlichen Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen zuständigen Stelle als Zeuge oder Sachverständiger uneidlich falsch aussagt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

Und eben NUR als Zeuge oder Sachverständiger, als Angeklagter darf man straflos lügen "bis sich die Balken biegen".

bis sich die balken biegen aber auch nicht, zB darf man niemand anderen falsch beschuldigen.

Also man kann nicht wegen der falschaussage bestraft werden, durchaus aber wegen anderem was sich daraus ergibt

Ja, als Angeklagter darf man lügen, man darf auch die Aussage verweigern.

Was man jedoch nicht darf, ist jemand anderen einer Tat bezichtigen, die er nicht begangen hat.

Das hängt damit zusammen, dass kein Angeklagter dazu gezwungen werden kann, gegen sich selbst auszusagen. Das ist einer der Grundpfeiler unseres Rechtsstaates. Die Staatsanwaltschaft muss die Schuld beweisen.

Das Problem an dieser Regelung ist, dass die Aussage des Angeklagten praktisch kein Gewicht hat. Er darf ja lügen.

Das Recht zur Lüge als Beschuldigter im Ermittlungsverfahren

Die Gesetze enthalten keine Wahrheitspflicht für den Beschuldigten, sie ist auch nicht „über drei Ecken“ aus dem Gesetz herzuleiten. Aber es ist im Gesetz auch kein Recht zur Lüge als Beschuldigter im Ermittlungsverfahren
verankert. Tatsache ist aber, dass die Lüge des Beschuldigten nicht
sanktioniert ist. Das bedeutet also, gegen den Beschuldigten  kann
nichts unternommen werden, wenn er unwahre Angaben in einer
Beschuldigtenvernehmung macht.

Ja, das ist wahr. man darf sagen, daß man es nicht war, daß man woanders war usw. Man darf aber nicht einen anderenzu Unrecht beschuldigen. Das wäre eine Straftat.