Konnten normale Bürger von NS Verbrechen gewusst haben?

6 Antworten

alle haben mitbekommen, dass juden abtransportiert wurden und ihr vermögen kassiert wurde. das ist doch schon genug, um sich mit schuldig zu machen.

der grösste teil der bevölkerung ahnte schon, was mit den juden geschieht. aber ob sie juristisch einwandfrei wussten, was abläuft ist nicht sicher.

mein grossvater ahnte lange nichts davon. erst als im fortschreitenden krieg juden zu fuss nach westen getrieben wurden und in seiner gemeinde ein solcher transport nächtigen sollte, wurde ihm wahrscheinlich das ganze ausmass klar.

er organisierte mit anderen einwohnern vernünftige übernachtungsmöglchkeiten und verpflegung. die bemühungen waren umsonst, weil sie feststellen mussten, dass die juden schlimmer als vieh behandelt wurden und die bewacher nicht dran dachten die angebotenen möglichkeiten den juden zukommen zu lassen.

zu nem freund soll er danach gesagt haben: "wenn wir dafür bezahlen müssen, dann gnade uns gott!". aber alle, die was gesehen hatten, behielten das für sich, erzählten es nicht mal im engeren familienkreis. bereits die ehefrauen wurden nicht informiert.

annokrat

Millionen Menschen verschwinden nicht über Nacht.

Selbstverständlich wusste ein Großteil der Bevölkerung von all dem, der kleine Rest konnte es sich denken. Wenn deine Nachbarn, Freunde und Bekannten von heute auf morgen verschwinden, bleibt das nicht unbemerkt. Die Stimmung zu der Zeit sprach unter Hitler auch Bände. 

Die Antwort, dass man von all dem nichts gewusst habe, ist schlichtweg das Resultat der Angst vor möglichen Schuldzuweisungen. 

Die Juden verschwanden nicht über Nacht. Die Deportationen waren vorher bekannt, die Menschen "kamen fort". Angeblich zum Arbeitseinsatz in den Osten. Das nahm die Masse nicht nur hin, sondern begrüßte es sogar. Denn in jeder Familie fehlten Männer, die nicht zu Hause waren, aber auch unverheiratete Frauen, die genauso eingezogen wurden. Umgekehrt gab es überall Fremdarbeiter und Kriegsgefangene im Land - alle nicht freiwillig, aber man betrachtete alles als Notwendigkeiten. Insofern waren diese Massenverschiebungen nicht unbedingt beunruhigend.

Dazu eine Episode aus der Nachkriegszeit:

Anfangs der 60er Jahre verschwanden aus meiner Heimatstadt nach und nach die ehemaligen SS-Männer. Sie setzten sich ab nach Südamerika. Ich begann damals gerade durch die Kneipen zu ziehen. An einem der vielen Tresen saß ich mit meinem Vater an einem Alte-Männer-Tresen, darunter ein jüngerer, der noch keine vierzig war, ein ehemaliger SS-Mann. Bei der bröckeligen Unterhaltung fragte ihn einer mit einem gewissen Spott: "Und? - Machst Du auch ab nach Südamerika?"

Er wies das weit von sich: "Wenn die alle Dreck am Stecken haben, sollen sie das tun. Ich nicht. Ich habe mir nichts vorzuwerfen." Und als Scherz gedacht fügte er hinzu: "Außer, dass ich ein paar Juden umgebracht habe. Aber das war ja was anderes."

Alle starrten in ihr Bierglas. Nur mein Vater stellte in das Schweigen hinein fest: "Das waren ein paar Juden zuviel..."

Der SS-Mann verteidigte sich: "Wieso? Das habe ich ja für euch alle getan, für das ganze Volk. Ihr alle wolltet sie doch fort haben. Das ist doch etwas, worauf ich stolz sein kann!"

Keiner antwortete. Nur mein Vater sagte mit der gewichtigen Bedächtigkeit, mit der sie alle redeten, wenn sie redeten: "Nein, das hast Du nicht für uns getan. Es ist richtig, dass wir mit den Juden unseren Spott getrieben haben, und wir machten Witze über sie. Gegen den einen oder anderen hatten wir auch was. Aber umbringen? - Von 'Umbringen' hat keiner was gesagt."

Da erst kam Bewegung in die Runde. Alle nickten über ihrem Bierglas und einer, gegenüber, deutete lange mit langem Zeigefinger in die Richtung meines Vaters, die Geste, die besagt: "Genauso isses!"

"Ach! Jetzt auf einmal?" Der SS-Mann sah in die Runde und fragte: "Seht ihr das auch alle so?", und alle nickten. Er wurde sehr kleinlaut, und es klang bitter: "Wenn das so ist, dann habe auch ich hier nichts mehr verloren..." Ein paar Wochen später war auch er ab nach Südamerika.

Ich will meine Rolle nicht verschweigen: Ich begann innerlich zu kochen, wegen der Äußerungen meines Vaters. In Gesellschaft dieses Mannes hatte ich schon öfter am Tresen gestanden. Wie alle SS-Männer, die ich kannte, legte er eine stets verbindliche Kameradschaftlichkeit an den Tag, und das tat mir gut. Es war kein Zufall, denn, so sagte er mir: "Deine Mutter hat mich im Lazarett gepflegt."

  Damals war ich siebzehn, und der festen Überzeugung, dass ich als Einziger die Machtergreifung verhindert hätte, wenn ich 1933 doch nur dabei gewesen wäre. Doch jenseits aller Ideologien, Idealismen, und Rechtschaffenheit, war ich stets auf der Seite dessen, der mir freunschaftlich auf die Schulter klopfte. Das tat mein Vater nie. Und hatte er denn etwas gegen den Nazikram getan?

Es dauerte noch Jahrzehnte bis mir dämmerte, dass ich wahrscheinlich auf der Seite der Täter gewesen wäre. So, wie ich zehn Jahre später auf der Seite der überlebenden Opfer war, die ich kennen lernte. Ich glaube, es waren auch Schützlinge von Oskar Schindler darunter.

Angel - so einfach kann die Frage nicht beantwortet werden!

Es gibt Dinge, die glaubt man nicht - selbst dann nicht, wenn man sie hört oder sieht. Es gibt aber auch Dinge, die glaubt man gegen besseres Wissen.

Beides hängt unter anderem davon ab, von wem die Information stammt, und wie sie vermittelt wird.

Das wusste auch die NS-Administration. Sie machte sich sehr wohl Gedanken um die Reaktion der Bevölkerung. Deshalb unterdrückte sie nicht nur gewaltsam jede Kritik, sondern täuschte auch mit unglaublichem Geschick die Masse Bevölkerung über alles hinweg, was Protest verursachen konnte.

Ein Beispiel, wie wirksam die Einschüchterung war: Im Jahr 1978 erzählte ein alter Mann von seinem Erlebnis in der Ukraine. Er war kein Soldat, sondern bei der Organisation Todt. Eines Tages sprach es sich auf seiner Dienststelle herum, dass in unmittelbarer Nähe eine Massenerschießung durch die SS bevorstand. Sie beschlossen sich das anzusehen. Seine detaillierte Beschreibung war auch nach all diesen Jahrzehnten noch geprägt von Entsetzen.

Aber auch immer noch von seiner Angst: "Ich erzähle das heute zum ersten Mal, denn die Angst darüber zu reden, saß mir bleibend in den Knochen. In den Wochen danach hatte ich jede Nacht Albträume. Immer wieder fuhr ich schweißgebadet aus dem Schlaf hoch, weil ich geträumt hatte, ich hätte mich irgendwo verplappert und würde vom SD abgeholt."

Nicht immer gelang die Einschüchterung. Das Euthanasieprogramm ("Vernichtung lebensunwerten Lebens") musste abgebrochen werden. Der Bluff gelang nicht, der Widerstand aus der Bevölkerung wurde für das Regime zu riskant.

Wie riskant der Potest war, lässt sich auch am Schicksal der Weißen Rose ermessen. Durch sie ist bezeugt, dass die Verbrechen bekannt waren, aber auch, dass dieses Wissen nicht ohne Konsolidierung Wirkung zeigen konnte, und dass eine Konsolidierung sorgsam und nachhaltig verhindert wurde.

Sodann der Aspekt: Wer tut Was? - Staat und Administration sind normalerweise die Garanten für Recht und Ordnung. Sie verfolgen Verbrechen und ahnden sie. Wohin aber wendet sich der Einzelne denn, wenn Staat und Administration selbst Verbrecher sind? Das ist nicht allein ein Problem des autoritativen Gehorsams, oder positiv ausgedrückt: der Handlungsbereitschaft. Es ist auch eine Frage der Handlungsmöglichkeit.

Um aber deine Frage zu beantworten: Ja! Normale Bürger konnte von den NS-Verbrechen gewusst haben. Es nutze ihnen aber normalerweise nichts.

Ja,  alle haben es danach abgestritten,  aber jeder hat die Diskriminierungen und Abtransporte der Juden und "Zigeunern" mitbekommen. Und der ganze Verwaltungsapparat,  der mitgewirkt hat 

Natürlich... man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass die Nazis nur eine kleine Gruppe von Schurken waren, die unbemerkt von allen anderen ihren Machenschaften nachgingen. Oder, überspitzt formuliert: Oma, Opa und Hans-Peter, keine Opfer, sondern Täter!